Um die Digitalmedizin stand es hierzulande lange ähnlich wie um die Digitalisierung im Allgemeinen: Deutschland hinkte im internationalen Vergleich hinterher. Das hat sich binnen kürzester Zeit radikal gewandelt. Innerhalb weniger Monate wurden politische und rechtliche Grundlagen für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) geschaffen und der Wettlauf um die ersten Zulassungen begann. Jetzt stehen die ersten Gewinner fest: kalmeda von Pohl-Boskamp und die App velibra gehen an den Start.
Mit dem Digitale-Gesundheits-Gesetz (DVG), das im Dezember 2019 in Kraft trat, waren die Weichen gestellt: Deutschland erkennt – als erstes Land weltweit in diesem Umfang – digitale Anwendungen als vollwertige Medizinprodukte an. Hierfür müssen sie zunächst ein aufwendiges Prüfverfahren durchlaufen, können im Anschluss dann aber als “Apps auf Rezept” verschrieben werden. Dabei wird jede App auf Herz und Nieren gecheckt: Vom Datenschutz über Funktionalität und Sicherheit bis hin zur Anwendbarkeit auf möglichst vielen Devices. Jetzt haben zwei Anwendungen dieses Prüfverfahren des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erfolgreich passiert und wir sagen: Herzlichen Glückwunsch.
Die ersten ihrer Art
Bei den ersten beiden zugelassenen DiGA handelt es sich um die App velibra von GAIA , mit der Betroffene von generalisierten Angstzuständen, Panikstörungen und sozialen Phobien geholfen werden soll. Die zweite ist die App kalmeda von Pohl-Boskamp, die bei Tinnituspatienten zum Einsatz kommt. kalmeda bietet einen individualiserten Therapieplan auf der Basis der Angaben des jeweiligen Nutzers und stellt ihm zudem ein eigenes Übungsprogramm zusammen, mit dem die störenden Ohrgeräusche besser erträglich werden sollen. Beide Apps richten sich also an die Betroffenen selbst und sollen sie dazu befähigen, sich besser um das eigene Wohlbefinden zu kümmern und mit den Beeinträchtigungen eigenständiger umgehen zu können. Damit wird der Trend des mündigen Patienten einen digitalen Schritt weiter getrieben.
Zwei sind der Anfang
Mit der Zulassung von Apps wie kalmeda als DiGA hat ein neues Kapitel der medizinischen Versorgung in Deutschland begonnen. Aktuell mag es nur zwei Zulassungen geben, aber heute schon befinden sich weitere 21 Produkte in der Zulassungsphase und es werden mit Sicherheit noch deutlich mehr werden. Aus Sicht der Patienten bedeutet die gesetzliche Entwicklung nämlich: Ab sofort haben die 70 Millionen Krankenversicherten in Deutschland Anrecht auf eine digitale Medizinversorgung. Hierfür müssen die Digitalprodukte aber auch alle medizinischen Bereiche abdecken, was noch eine Vielzahl von Neuerscheinungen voraussetzt.
Wie geht es weiter?
Wie groß der Nutzen für die Betroffenen und der Markt für die Anbieter ist, lässt sich noch schwer abschätzen. Hinzu kommen weitere offene Fragen: Wie wird die Akzeptanz bei den Patienten sein, wie stark die digitale Therapietreue mit den neuen Medizinprodukten? Und welche Ärzte öffnen sich dieser digitalen Wende und verschreiben die Produkte auch tatsächlich? Natürlich sollen die Apps bisherige Therapieansätze ergänzen und nicht ersetzen. Ärzte werden also auch in absehbarer Zukunft keine reinen Digitalmediziner werden. Aber der Blick in so manche Arztpraxis, in der das Faxgerät nach wie vor den wichtigsten Kommunikationskanal darstellt, lässt erahnen, dass sich die Ärzte in early adopters und Bremser oder sogar Verweigerer aufteilen könnten.
So gesehen befinden wir uns in vielerlei Hinsicht in einer Art Testphase der Digitalmedizin. Viele Faktoren nehmen dabei Einfluss auf den Erfolg der DiGA, von Seiten der Ärzte, der Patienten aber auch der Industrie, die in Sachen Entwicklung digitaler Technologieprodukte sicherlich noch viel zu lernen und aufzuholen hat. Mit der Zulassung von kalmeda und velibra hat die Entwicklung aber den Rahmen theoretischer Überlegungen gesprengt. DiGA sind somit heute schon Realität und sie haben das Potenzial, Patienten eigenständiger und mündiger zu machen sowie eine individuellere und aktivere Behandlung zu ermöglichen. Die Erfahrungen der nächsten Monate sind deshalb extrem spannend und wir werden Sie über das Thema weiter auf dem Laufenden halten.
Was sind DiGA?
DiGA sind CE-gekennzeichnete Medizinprodukte mit niedrigem Risiko, die laut BfArM dazu bestimmt sind “die Förderung der Gesundheit sowie die Erkennung, Überwachung, Behandlung von Krankheiten zu unterstützen”. Das BfArM führt zusätzlich eine Zertifizierung im sogenannten “Fast-Track-Verfahren” durch, was eine Zulassungen in 3 Monaten vorsieht.
Nach der Zulassung können Ärzte und Psychotherapeuten ihren Patienten DiGA verschreiben. Die Kosten übernehmen die Krankenkassen.
Beispiele für möglich Einsatzgebiete von DiGA sind:
- Diagnostik & Therapie-Software wie Online-Coaching oder Hautscanner-Apps
- Elektronische Patiententagebücher
- Informations-Apps zu bestimmten Indikationen wie Impfkalender oder DIY-Diagnoseanleitungen
- Motivationsapps mit individualisierten Übungen